05.09.10

Ich hab noch einen Koffer in Berlin

Von Cuentacuento
Am Vormittag Schauer, am Nachmittag länger anhaltenden Regen hatte der Wetterbericht für Berlin angedroht – und sich wieder einmal, diesmal zu unseren Gunsten, geirrt. Den vorsichtshalber mitgenommenen Schirm brauchte ich jedenfalls nicht, als ich Villa gestern kurz nach 10 Uhr vom Bahnhof abholte, und am frühen Nachmittag schlürften wir unseren Cappuccino in der Sonne und fühlten uns wie Urlauber in der Altstadt von Spandau „bei Berlin“, wo die Zeit ein bißchen gemächlicher zu vergehen scheint, als in der hektischen Hauptstadt. Ich hatte Villa zeigen wollen, wo Berlin nicht viel anders aussieht als Jena. So besuchten wir Tochter Nr. 1 bei FLAMME in Spandau, schlenderten dann noch durch das Möbelhaus, entdeckten dabei einen Eßtisch mit bequemen Freischwingern, deren Bouclé-Bezüge jenen Retro- Touch haben, der gut in meine Wohnung passen würde. Danach machten wir uns auf den Weg Richtung Altstadt und wollten von dort die Kurve zur Zitadelle kriegen, wo wir allerdings nie ankamen, denn, wie gesagt, die Sonne schien so schön, wir hatten Lust auf Kaffee, und als wir weiterwanderten, gerieten wir auf ein Weinfest, und da war natürlich alles zu spät.

Die ausgiebige S-Bahnfahrt von Lankwitz nach Spandau führte meiner Freundin mal wieder vor Augen, warum für mich eine Fahrt nach Jena nicht wirklich eine Reise, sondern mehr ein Ausflug ist. Berlin ist groß, und ein Besuch der Randbezirke führt schon mal durch ein Stückchen Wald, so daß man meint, die Stadt bereits verlassen zu haben. Wer hier meint, an einem Tag möglichst viele Sehenswürdigkeiten „abhaken“ zu können, täuscht sich, was das quantitative Verhältnis von Sehenswertem betrifft, und setzt sich dazu noch einem ganz schönen Stress aus. Stress aber wollen wir nicht, und deshalb nehmen Villa und ich uns immer nur ein Eckchen von Berlin vor. Und während wir so mit der Bahn in „die Stadt zurück“ fuhren, bekam der Wetterbericht dann doch noch Recht. Es fing an zu schütten wie aus Eimern. Doch wenn die S-Bahn auch kein Hochgeschwindigkeitszug ist, so schaffte sie es doch, Lankwitz vor dem Regen zu erreichen. Trockenen Fußes erreichten wir meine heimische Hütte, und erst als wir dort (schon wieder) beim Kaffee saßen, pladderte es los. Der Regen und, weil wir uns schon wieder verplauscht hatten, waren uns Grund genug, wie Wilmersdorfer (Stroh-)Witwen mit dem Taxi zum Wintergarten zu rauschen, der mit seinem von vielen Lichtern geschmückten Entree an einem regnerischen Abend in der Potsdamer Straße ganz besonders lockt.

1880 eröffnete das Central-Hotel an der Friedrichstraße mit einem „Jardin de Plaisanterie“ beziehungsweise Wintergarten. In dem etwa 2000 qm großen Gartensaal mit Palmen, Springbrunnen und Grotten flanierten die Gäste des Hotels, und bereits im selben Jahr fanden erste Konzertveranstaltungen statt. 1884 wurde der Wintergarten zum Programm- und Verzehrtheater, und weitere vier Jahre später wurden erste kleine Varieté-Vorstellungen gegeben, in denen Akrobaten und Zauberkünstlern auftraten. Für Cineasten wurde der Wintergarten im darauffolgenden Jahr wichtig. Die Brüder Skladanowsky brachten hier den Kinematographen auf die Bühne – eine Weltpremiere. In den Zwanzigern des folgenden Jahrhunderts wurde das Programm des Wintergartens von unvergeßlichen Talenten wie Claire Waldoff und Otto Reutter geprägt. Bis zur letzten Vorstellung am 21. Juni 1940 war der Wintergarten die wohl beliebteste Varieté-Bühne der Hauptstadt. Dann fiel er bei einem Bombenangriff in Schutt und Asche. Es dauerte über 50 Jahre – fast so lange, wie der alte Wintergarten existiert hatte, bis er am 25. September 1992 mit einer glanzvollen Premiere und Hommage an den alten Wintergarten neueröffnet wurde. Wer noch keine Gelegenheit hatte, ihn zu besuchen, kann hier einen virtuellen Rundgang machen. „Made in Berlin“ läuft, von einer Sommerpause abgesehen, schon seit Mai und nur noch bis zum 25.September, und wir haben nicht eine Sekunde lang bereut, sie noch gesehen zu haben. Auch seinem Namen wird dieses Programm gerecht. Die jungen Tänzer und Akrobaten kommen ausnahmslos aus der vor zwei Jahren von Markus Pabst gegründeten Kreativschmiede BASE Berlin, und viele von ihnen wurden an der Staatlichen Schule für Artistik Berlin ausgebildet. Fast alle Acts sind in der Hauptstadt entstanden, und es verwundert nicht, daß einige seither Exportschlager geworden sind, so zum Beispiel der 21-jährige Eike von Stuckenbrok als Puppenspieler der anderen Art mit seiner Handstand-Kreation auf einer Schaufensterpuppe, der in diesem Jahr beim Pariser "Festival Mondial du Cirque de Demain" eine Bronzemedaille gewann. Mindestens ebenso beeindruckt der junge Artist aber zusammen mit dem soviel Lebensfreude ausstrahlenden Rémi Martin bei einer Doppel-Pole-Darbietung am Chinesischen Mast. So wie David Pereira sich verbiegen habe ich bisher nur die sogenannten „Menschen ohne Knochen“ im Zirkus gesehen. Der Spanier kombiniert die Kunst der Kontorsion und des Tanzes und gleichzeitig die Melancholie mit der Kraft ganz leicht und elegant. Ebenso gefühl- und kraftvoll und gleichzeitig voller Harmonie „erzählt“ das Hand-auf-Hand-Duo Kati und Philipp, das auch im Leben ein Paar ist, und dessen gemeinsame Geschichte schon im Kinderzirkus begann, in seiner Darbietung eben diese Geschichte und präsentiert sich darüber hinaus mit einer sehr ästhetischen Performance am Vertikaltuch. Sehr beeindruckt war ich auch von den „schönsten Beinen Berlins“, die nicht mehr Marlene Dietrich gehören, sondern heute Nata Galkina. Geschicktere Füße dürfte man so schnell nicht wieder zu sehen bekommen, und die Fußjonglage der Künstlerin, die ihre artistischen Fähigkeiten in Rußland erworben und Schauspiel an der Folkwang-Schule in Essen studiert hat, bleiben im Gedächtnis. Aufgelockert wird das Programm durch die verschiedensten Tanzdarbietungen, bei denen Lea Hinz, die von der rhythmischen Sportgymnastik her kommt, und der Ballettänzer Dennis McDao sich durch ihr Talent und auch durch ihre Komik hervortun, sowie durch die musikalische Untermalung mit Berliner Musik von „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ bis zu einer Persiflage auf „Hier kommt Kurt“, nämlich „Hier kommt Knut“ mit Auftritt eines falschen Eisbären in einem Kostüm, wie ich es seit meiner Kindheit kenne, als man sich vor dem Zoo mit dem falschen Berliner Bären fotografieren lassen konnte. Alles, was ich jetzt vergessen habe, muß bitte Villa erzählen. Schließlich war ich im Wintergarten auch mit Essen beschäftigt. Und für das Menü ist bitte Villa zuständig, die ich an dieser Stelle noch mal in Gedanken ganz doll umarmen möchte. Das waren für mich wunderschöne Stunden, die wir zusammen verbracht haben. Wie eine Berliner Weiße mit Himbeerschuß könnte ich jetzt noch überschäumen, und wenn das Weißbierglas groß genug wäre, würde eine rosa Welle bis nach Jena schwappen und der Schaum Euch an der großen Zehe kitzeln. Ganz liebe Grüße von der Spree an die Saale Eure Chris

Liebe Chris, deinem Bericht und dem Lied ist nichts mehr hinzuzufügen. Es war ein wunderschönes Wochenende. Herzlichsten Dank! Feines Essen haben sie im Wintergarten. Mein Risotto mit sautierten Pfifferlingen und gegrillten Jacobsmuscheln auf Aprikosen-Chutney war perfekt und auch wenn du skeptisch bei meiner Nachspeise, Erdbeeren mariniert mit altem Balsamico und grünem Pfeffer, warst, mir haben sie ausgezeichnet gemundet. Der Sonntagnachmittag gehörte dann wieder unserer Seifenkiste, aber davon später mehr. Ich weiß, dass mein Koffer in Berlin wartet - Villa

5 Kommentare:

  1. Das Verzehrtheater gefällt mir !
    Phillipp

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  2. [lacht]
    Da verzehrt man sich halt theatralisch. ;-))
    C.

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  3. Na da hattet Ihr ja Kultur hoch 3!! Schöööön! "Drei der BASE-Darbietungen wurden zum diesjährigen Circusfestival „Cirque de Demain“ in Paris eingeladen" habe ich gelesen. Und sooooo viele unterschiedlich Künstler auf der Bühne. Sehenswert!

    Liebe Grüße, der "Etwas-Neidische-mit-H" ;-)

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  4. Nur kein Neid! Obwohl wir das Programm sehr genossen haben. Ein Zauberkünstler war aber nicht dabei. ;-)

    Ansonsten hast Du recht: Drei der Artisten waren eingeladen (und sie haben es verdient). Da alle noch sehr jung sind, darf man noch einiges von ihnen erwarten.

    Liebe Grüße
    von den Schreibwerkstatt-Eremitin (wenn Villa nicht gerade in Berlin ist)

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  5. @ John-mit-H
    Ja, es war ein tolles, frisches Programm und wirklich schöön.
    Berlin ist immer eine Reise wert.

    Was dich interessieren dürfte, während unseres Lissabon-Besuches fand dort das Sreet Magic World Festival statt. Wir haben fast alle 15 Teilnehmer aus der ganzen Welt gesehen und wenn ich mal Zeit finden würde, könnte ich dir die schönen Auftrittsfotos zeigen.

    magische Grüße nach Hannover

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